Persönliches


Heute ist ein ganz normaler Tag.

Heute ist ihr Geburtstag.
Vermutlich gilt sie als taff, klug, ist anerkannt in ihrem Umfeld.
Sie steht aufgrund ihres Jobs im Blickpunkt der Öffentlichkeit.
Sie lebt in finanzieller und sozialer Sicherheit.
Sie ist Mutter.
Doch sie hat ihre Tochter nicht geschützt, weder vor sich selbst noch vor ihrem Mann.
Sie ist Täterin.
Sie hat ihre Tochter jahrelang geschlagen, gequält, angebrüllt.
Sie hat geschwiegen, wenn ihr Mann ins Zimmer seiner Tochter ging.
Sie ist eine von vielen.
Ich bin auch eine von vielen.
Ob jemand an der feierlichen Tafel anlässlich ihres Geburtstages das Fehlen der Tochter bemerken wird?
Gar Fragen stellen?
Sich Gedanken machen?
Handeln?
Oder schweigen, wie all die Jahre. Denn es kann nicht unbemerkt geblieben sein.
Ich bin keines von den Kindern, das todgequält wurde. Ich habe es überlebt. Und bin genau deswegen eine von vielen. Und nicht eines der wenigen Kinder, das entdeckt wird – zu spät, weil tot. Aber immerhin werden dann die Täter zur Verantwortung gezogen, weil dann keiner mehr die Augen verschließen kann.

Fragen stellen:

Was sie wohl antworten würde auf Fragen? Dasselbe wie dem Versorgungsamt? Als diese nachfragten ...

... im Zusammenhang mit einem Antrag auf Opferentschädigung:

„Zu Ihrem Schreiben vom 22.09.2005, meine Tochter X betreffend, nehme ich wie folgt Stellung:
Die Anschuldigungen von X gegenüber ihrem Vater und mir weise ich entschieden zurück.“ ….

Der Antrag wurde übrigens abgelehnt mit folgender Begründung:

„Es ergibt sich kein Nachweis, dass Sie in den Jahren 1975-1995 infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen Ihre Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben.“
„Die von Ihnen gemachten Angaben zum Tatgeschehen reichen allein als Nachweis für die anspruchsbegründenden Voraussetzungen des §1 OEG nicht aus.“
„Nach dem auch im OEG geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast hat die Folgen der Beweislosigkeit derjenige zu tragen, dem es nicht gelingt, die rechtserheblichen Tatsachen, aus denen der ein Recht herleiten will, zu beweisen. Eine Beweisregelung dahingehend, dass die anspruchsbegründeten Voraussetzungen im Zweifel zugunsten des Geschädigten als erfüllt anzusehen sind, gibt es im sozialen Entschädigungsrecht- und damit auch im OEG- nicht.“

Es wurde mithilfe einer Anwältin Widerspruch gegen diesen Bescheid eingelegt. Schon allein, um sich dagegen zu wehren,das es nicht reicht, all die Gewalt zu überleben und irgendwann den Mut zu finden, es auszusprechen. Das Verfahren läuft noch.

Sich Gedanken machen:

Hat damals irgendjemand nachgedacht, wenn er das Geschrei in der Wohnung im untersten Stockwerk gehört hat?
Wenn das Kind in der Schule auffiel durch sein Verhalten, Schweigen, Traurigkeit?
Wenn Verwandte und Freunde der Familie oder Nachbarn Zeuge dessen wurden?

Handeln:

Doch es gab eine Person, die versucht hat, zu handeln und zu helfen. Erfolglos und es hat es noch schlimmer gemacht.
Denn statt Hilfe anzunehmen, wurde dem Kind eingeprügelt, das es zu schweigen haben.

Auch andere haben gehandelt: weggesehen, ignoriert, geschwiegen, ….

Heute lebe ich in einer anderen Stadt, habe einen anderen Namen.

Viele meiner Freunde wissen nicht genau, wo ich eigentlich aufgewachsen bin, wie ich eigentlich heiße und warum heute ein ganz normaler Tag ist und ich nicht an der festlich geschmückten Tafel anlässlich des Geburtstages der Mutter, deren Tochter ich bin, sitze.

Über vieles schweige ich immer noch.

Angst und Scham sind so groß, das ich es nicht wagen würde, die Namen derer zu nennen, die Täter sind.

Ich bin eine von vielen.