Theoretisches

1. Was ist ein Trauma?
2. Trauma-Formen
3. Dissoziation 
4. Theorie der Strukturellen Dissoziation
5. Traumatische Erinnerungen
6. Die Posttraumatische Belastungsstörung




1. Was ist ein Trauma?

"Trauma ist ein Ereignis, das die Psyche angreift und ihre Integrität bedroht. Es kann so nachhaltig wirken, dass es die Biographie des Betroffenen massiv beeinflusst. Wenn nicht schnell und effektiv interveniert wird, kann es einen Persönlichkeitsveränderung oder eine somatische Krankheit zur Folge haben. Nach der American Psychiatric Association (1987) wird Trauma definiert als "ein psychisch Stress auslösendes Ereignis außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrung". Es ist davon auszugehen, dass derartige Ereignisse die Möglichkeit sonst bewährter Bewältigungsstrategien übersteigen. Ein traumatisches Ereignis ruft große Angst, Hilflosigkeit und Entsetzen hervor."
Aus: Mitchell, J.T. & Everly, G.S. (1998) . Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen, Hrgs. A. Igl und J. Müller-Lange. Edewecht: Stumpf & Kossendey.



2. Trauma-Formen

Die Klassifikationssysteme definieren Trauma wie folgt:

ICD-10 1994 (Klassifikation der WHO)

"kurz- oder langanhaltende Ereignisse oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, die nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde."

DSM IV 1994 (in den USA gebräuchliches Klassifikationssystem)"Potentielle oder reale Todesbedrohungen, ernsthafte Verletzung oder eine Bedrohung der körperlichen Versehrtheit bei sich oder anderen, auf die mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Schrecken reagiert wird."

(Andreas Maercker (Hrsg.), Therapie der posttraumatischen Belastungsstörung, Berlin, Heidelberg, New York: Springer,1997, 6)

Man unterscheidet kurzdauernde traumatische Ereignisse (Typ-I-Traumen) und längerdauernde, wiederholte Traumen (Typ-II-Traumen).

Charakteristika der Typ-I-Traumen sind meist akute Lebensgefahr, Plötzlichkeit und Überraschung.

Beispiele:

Naturkatastrophen, Unfälle, technische Katastrophen, kriminelle Gewalttaten, wie Überfälle, Schusswechsel u. ä.

Kennzeichen der Typ-II-Traumen sind Serien von traumatischen Einzelereignissen mit geringer Vorhersagbarkeit des Weiteren traumatischen Geschehens.

Menschlich verursachte Traumen:

        * sexuelle und körperliche Misshandlungen in der Kindheit
        * kriminelle und familiäre Gewalt
        * Vergewaltigungen
        * Kriegserlebnisse Zivile Gewalterlebnisse (z. B. Geiselhaft)
        * Folter und politische Inhaftierung
        * Massenvernichtung (KZ-, Vernichtungslagerhaft)

     (Maercker, 1997, 5 + 6)

Nicht das Trauma an sich, sondern die Verarbeitung und die Bedeutung, die der Traumatisierte dem Geschehen zuweist, bestimmen die Ausprägung einer folgenden Erkrankung.

(vgl. Bessel A. van der Kolk, Alexander C. McFarlane, Lars Weisaeth (Hrsg.), Traumatic stress. Grundlagen und Behandlungsansätze. Theorie, Praxis und Forschung zu posttraumatischem Streß sowie Traumatherapie, Paderborn: Junfermann, 2000, 206)

Generell lässt sich sagen , dass durch Menschen verursachte Traumen und zeitlich längerdauernde Traumen zu stärkeren und chronischeren Beeinträchtigungen führen.

Traumen lassen sich in ihrer Pathogenität unterscheiden. Die pathogensten Formen sind:

        * Vergewaltigung
        * Kriegsteilnahme (Soldaten und Zivilisten)
        * Misshandlungen und sexueller Missbrauch in der Kindheit

    (Maercker, 1997, 22)
Eine andere Quelle spicht von Entwicklung einer PTSD nach folgenden Traumen:

        * 20% nach einem Verkehrsunfall
        * 50% nach einer Vergewaltigung
        * 80% nach Folterung

    (Hans-Henning Melbeck, Ptsd-unit. Vortrag vor der Feuerwehr Leitung Berlin, 20012001))

Das Trauma wirkt umfassend und beeinflusst den Menschen auf all seinen Funktionsebenen: auf der physiologischen, psychologischen, sozialen und spirituellen.



3. Dissoziation

Die Dissoziation ist eine Veränderung des Bewußtseins, in der auf vielfältige Art normalerweise verbundene psychische Prozesse bis hin zur eigenen Identität als von einander getrennt („dissoziiert“) erlebt werden. Dieser Bewußtseinszustand kann wiederum von starken Emotionen begleitet werden.

Definition der Dissoziation

Die Dissoziation läßt sich definieren als ein komplexer psychisch-körperlicher Prozess, der durch eine teilweise oder völlige Spaltung psychischer Funktionen, wie der Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitätsbewußtseins, der Wahrnehmung des Selbst und der Umgebung und der unmittelbaren Empfindungen gekennzeichnet ist. Es handelt sich um eine Störung des Bewußtseins, die vielfältige Formen aufweisen kann.

Die Dissoziation umfaßt ein Spektrum, das von normalpsychologischen Phänomenen, z. B. in Übermüdungs- und Stressituationen, über Trancezustände, die bewußt angestrebt werden (Schamanismus, rituelle Tänze, Hypnose), bis hin zu den eigentlichen psychopathologischen Phänomenen reicht. Es gibt folgende Formen der Dissozition:

die dissoziative Amnesie (selektive und generalisierte Amnesie)

die dissoziative Fugue

die Depersonalisation

 die Derealisation

der dissoziative Stupor

Trance und Dämmerzustände

die dissoziative Identitätsstörung


Theorien zur Entstehung dissoziativer Zustände

Gegenwärtig werden weitergehende dissoziative Störungen aufgrund empirisch gesicherter Ergebnisse als eine spezifische Folge schwerer chronischer Traumata, insbesondere sexueller und aggressiver Mißhandlung angesehen. Aber auch einmalige schwere traumatische Erlebnisse (Überfall, Vergewaltigung) können zu dissoziativen Zuständen führen .

Wenn man alle Faktoren, die vorallem langfristige und schwere sexuelle und körperliche Mißhandlung kennzeichnen, einbezieht,  versteht man, wie es zu einer dissoziativen Erkrankung kommt. Wie aus einem Abwehrmechanismus in einer, die Fähigkeit eines Kindes, eine Situation zu verstehen, zu verarbeiten und zu reagieren, überfordernden Situation mit Dissoziation zu reagieren ein Mechanismus wird, der bei immer wiederkehrender Bedrohung und Verletzung zum Überlebensmechanismus wird.

Es handelt sich bei der Dissoziation um eine Abspaltung von, mit traumatischen Erlebnissen verbundenem, psychisch unverarbeitetem Material, welches nicht in Sprachbilder umgesetzt und encodiert werden konnte. Aufgrund bleibender psychischer Schäden, die sich in einer mangelnden psychischen Integrations- und Kohäsionsfähigkeit ausdrücken, kann es später schon in weniger bedrohlichen Situationen zu dissoziativen Symptomen kommen. (Es bleibt durch eine geschwächte Ich-Entwicklung eine Bereitschaft zu einem spezifischen Typ psychischer Reaktionen erhalten. Die entstehenden dissoziativen Zustände führen immer wieder zu einem Bruch des Identitätsgefühles und schließlich zu einer fortschreitenden Schwächung der Persönlichkeit.


Aufgrund neuerer Ergebnisse der Traumaforschung geht man davon aus, daß es unterschiedliche Formen der Erinnerung gibt; verkürzt werden zwei Formen, die explizite (erklärende) Erinnerung, die sich auf das Bewußtsein von Fakten und Ereignissen bezieht und die implizite (nicht-erklärende) Erinnerung, die sich auf Gewohnheiten, emotionale Antworten, reflexive Handlungen und klassisch konditionierte Reaktionen bezieht, unterschieden. Gewöhnliche Ereignisse werden anders im Gedächtnis gespeichert als traumatische Ereignisse. Das hängt eventuell damit zusammen, daß eine extrem emotionale Übererregung (Arousal) mit Erinnerungsfunktionen des Hippocampus interferiert. In solchen Situationen könnte die explizite Erinnerungsfunktion versagen, so daß die Betroffenen keine Sprachbilder (Narrative) des Ereignisses entwickeln können. Aufgrund der erhaltenen Funktion der impliziten Erinnerung können sie aber körperliche Sensationen, Angstzustände, ängstigende diffuse Wahrnehmungen haben, die durch bestimmte, mit dem traumatischen Ereignis verbundene Triggersituationen ausgelöst werden können. Die psychische Verarbeitung der traumatischen Erlebnisse wird aufgrund der mangelnden Narrative erschwert.

 Dissoziation im Sinne der Traumatheorie erhält  dann 4 Bedeutungen, die wechselseitig von einander abhängig sind.

  Die sensorische und emotionale Fragmentierung der Erfahrung und des Erlebens

 Die „peritraumatische Dissoziation“ oder „spacing out“: Derealisation oder Depersonalisation während des traumatischen Ereignisses

 Fortgesetzte Depersonalisation und „spacing out“ während des täglichen Lebens

 Traumatische Erinnerungen, die mit verschiedenen Ich-Zuständen verbunden sind


Kognitionspsychologisch wird die Dissoziation als ein erlernter Mechanismus, der sich in der Entwicklung neuronaler Strukturen niederschlägt, verstanden. Es könnte organisierende, koordinierende Schaltstellen im Gedächtnissystem geben, die angeregt oder gehemmt werden. „Affekt-Erinnerung“, „Erinnerung/Erinnerung-Verbindungsstellen“ werden nach Art eines „turn-on“, „turn off“-Mechanismus“ entkoppelt . Lernpsychologisch wird das verwandte Konzept des „State dependent learning“ (situationsabhängiges Lernen) zur Erklärung herangezogen.


In der Psychologie des 19. Jahrhunderts wurde die Dissoziation vorwiegend als ein psychopathologisches Modell verstanden, welches mit traumatischen Erlebnissen verbunden war. Dieses Modell umfaßte im späten 19. Jahrhundert ein breites Spektrum von Erfahrungen, die im weitesten Sinne der Hysterie zugerechnet wurden; nämlich die Konversionsphänomene, Somatisierungsstörungen, den Somnambulismus und einige Formen der Zwangsstörungen. Noch Ende des 19. Jahrhunderts war ein großes Interesse an der Dissoziation zu verzeichnen, was sich auch in vielfältigen Publikationen ausdrückt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu einem starken Rückgang dieses Interesses. Dies hatte auch mit Freuds Widerruf seiner Verführungstheorie zu tun. Ein weiterer Grund lag in der Einführung des Schizophreniebegriffes durch Bleuler und schließlich im Aufkommen des Behaviourismus, der die Vorstellung des Unbewußten und eines geteilten Bewußtseins ebenso verwarf, wie die Vorstellung, daß Symptome durch Erlebnisse aus der Vergangenheit bedingt sein könnten (Ross 1996). Erst während der 80er Jahre kam es zu einem erneuten Interesse an der Dissoziation - dies im Zusammenhang mit Forschungen zum Vorkommen seelischer Traumatisierungen und damit verbundener Folgen. Weitere Gründe waren die Beobachtungen von psychischen Folgeschäden bei Vietnam-Veteranen und Folteropfern, die zu neuen Erkenntnissen der Traumaforschung führten und u.a. zur Beschreibung der „Posttraumatischen Belastungsstörung“ im DSM-III (1980).



4. Die Theorie der Strukturellen Dissoziation

Die Theorie der strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit (nach Elert Nijenhuis) beschreibt Stufen der Desintegration schwerer traumatischer Erfahrungen in eine Gesamtpersönlichkeit und damit die Ausprägung einer dissoziativen Symptomati im Gegensatz zu der Fähigkeit, eine große Bandbreite psychischer Phänomene in der Persönlichkeit zu integrieren. Beim Säugling oder Kleinkind sind psychobiologische Funktionen und das Selbstgefühl entwicklungsbedingt noch sehr zustandsabhängig. Die Integrative Kapazität des Kindes entwickelt sich mit der psychobiologischen Reifung des Kindes bzw. der Hirnstrukturren, die integrativen Funktionen dienen (Hippocampus,präfrontaler Cortex). Eine wiederholte Traumatisierung des Kindes (zer-)stört diesenpsychobiologischen Entwicklungsprozeß und es kommt zu einem Mangel der Integration der Zustände. Ein Mangel der Integration von Zuständen ist ein Vorläufer für die Entwicklung dissoziativer Persönlichkeitsanteile (Van der Hart).

Die Aufteilung erfolgt nicht zufällig, sondern entlang von Aktionssystemen.

Als Aktionssysteme werden im Rahmen der Theorie psychobiologische Überlebenssysteme oder emotional arbeitende Systeme, diesich in weitere Subsysteme einteilen lassen, verstanden. Die Aktionssysteme strukturieren die Persönlichkeit in großem Maße. Sie organisieren Hauptfunktionen wie Aufmerksamkeit, Emotionalität, (Neuro-)Physiologie und vor allem das Verhalten.

Mit dem Modell der strukturellen Dissoziation kann man eine grundsätzliche Aufteilung der Persönlichkeit vornehmen.

Grundlage hierfür ist, die Betrachtung der Persönlichkeit als ein sich selbst organisierendes psychobiologisches System, das aus Schichten von Modulen und Subsystemen besteht (Van der Hart).

Aktionssysteme werden nochmals unterschieden in die, die für das Funktionieren im Alltag zuständig sind (ANPs) bzw. die der individuellen Verteidigung bzw. dem Überleben in extremen Lebensumständen dienen (EPs).

Im Rahmen der Theorie der strukturellen Dissoziation werden 3 Stufen der Dissoziation unterschieden:

-primäre strukturelle Dissoziation: ein ANP und einEP

-sekundäre strukturelle Dissoziation: ein ANP und mehrere EPs

-tertiäre strukturelle Dissoziation: mehrere ANPs und mehrere EPs

Diese drei Stufen unterscheiden sich durch die Ausprägung der Desintegration und den daraus folgende Grad der Dissoziation (traumabedingte Aufteilung der Persönlichkeit /Janet/van der Hart) in Aktionssysteme, woraus sich dann die Möglichkeit der Zuordnung einer Diagnose (z.B, Pttbs, dissoziative Störungen, Komplexe Ptbs, DESNOS, traumabedingte Borderline-Persönlichkeitsstörung, andere dissoziative Erkrankungen, Disoziative Identitätsstörung) ergibt.



5. Traumatische Erinnerungen

Normale Erinnerungen tauchen als narrative Erzählung auf und werden im Laufe des Lebens je nach Sichtweise und Kontext weiterentwickelt und verändern ihre Gestalt. Die Speicherung traumatischer Erinnerung erfolgt außerhalb des Normalbewusstseins im Auftreten von körperlichen Symptomen, Verhaltensreinszenierungen und sensorischem Wiedererleben. Die Erinnerung an ein Trauma ist nicht verbalisierbar. Man vermutet, dass die linguistische Codierung innerhalb des Gehirns außer Kraft gesetzt wird.

Traumatisches Erinnern bedeutet Wiedererleben, denn jede Erinnerung ist bei ihrem Auftreten so lebendig wie beim ersten Mal.

Jedes traumatische Erleben erfordert eine Vielzahl von Abwehrmechanismen, die durch die Entwicklungsstufe des Opfers sowie dessen Temperament und den umgebenden Kontext bestimmt werden.

Die Erkrankung resultiert und geht mit der Unfähigkeit einher, "die Realität einer besonderen Erfahrung und das daraus resultierende wiederholte Wiedererleben des Trauma in vorhandenen Vorstellungen, Verhaltensweisen, Gefühle, physiologische Zustände und interpersonale Beziehungen zu integrieren."

(van der Kolk, 2000, 31)

Die traumatische Erinnerung hinterlässt eine Gedächtnisspur, die sich immer weiter einschleift.

"Bei traumatisierten Organismen zeigt sich, daß die Fähigkeit, relevante Erinnerungen abzurufen, verschwunden ist. Sie neigen dazu, Erinnerungsspuren des Trauma. auf Kosten anderer Erinnerungen abzurufen und sich bei jeder Erregung an das Trauma zu »erinnern«."

(van der Kolk, 2000, 211)



6. Die Posttraumatische Belastungsstörung

Eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine psychische Erkrankung (ICD-10: F43.1). Eine PTBS kann auftreten nach ein oder mehreren belastenden Ereignissen von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß (Trauma) . Dabei muss die Bedrohung nicht unbedingt die eigene Person betreffen, sondern kann auch bei anderen erlebt werden (z.B. wenn man Zeuge eines schweren Unfalls oder einer Gewalttat wird). Die PTBS tritt in der Regel innerhalb von einem halben Jahr nach dem traumatischen Ereignis auf und geht mit unterschiedlichen psychischen und psychosomatischen Symptomen einher. Häufig kommt es zum Gefühl von Hilflosigkeit, sowie durch das traumatische Erleben zu einer Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Eine erweiterte Form der PTBS ist die komplexe PTBS nach anhaltender Traumatisierung.

Die auftretenden Symptome der PTSD lassen sich in 3 Hauptgruppen zusammenfassen:

Intrusionen

Im Wachzustand und in Träumen drängen sich belastende Erinnerungen auf, die vom Betroffenen als überwältigend erlebt werden. "Das Trauma stoppt jeden normalen Entwicklungsverlauf, indem es immer wieder in das Leben des Opfers eindringt."

(Herman, 1998, 58)

Bemerkenswert ist, dass Traumatisierte das Ereignis immer wieder so erleben als würde es gerade geschehen. "Die intensive Dichte der fragmentierten Gefühle, der Bilder ohne Text, verleiht der traumatischen Erinnerung eine gesteigerte Realität."

(Herman, 1998, 60)

"Die empfundenen Gefühle liegen außerhalb des gewöhnlichen Erfahrungsspektrums und überfordern das gewöhnliche Vermögen, Gefühle auszuhalten."

(Herman, 1998, 65)

Direkt nach traumatischen Erlebnisse auftretende Intrusionen sind eine normale Reaktion auf bedrohliche Erfahrungen; sie dienen der Modifikation von Gefühlen und führen in den meisten Fällen zur Tolerierung des Inhalts der Erinnerungen. Gelingt die Integration nicht, werden die Intrusionen pathogen und führen zu einer Organisation des Lebens um das Trauma herum.

(van der Kolk, 2000, 29/30)

Intrusionen dienen der Akkomodation (Lernen aus Erfahrung und Planung heilender Handlungen) und Assimilation (Akzeptanz und Integration des Geschehens und Anpassung an neue Erwartungen).

Vermeidung/Betäubung

Die Vermeidung umfasst Versuche, die Erinnerung zurückzudrängen oder mit dem Trauma verbundene Aktivitäten auszuführen. Damit geht ein emotionales Betäubungsgefühl sich selbst, anderen Menschen und dem Leben gegenüber einher. "Das Opfer nimmt die Mühe, die es kostet, intrusive Symptome abzublocken, zwar zu seinem eigenen Schutz auf sich, verschlimmert damit jedoch das posttraumatische Syndrom, denn der Versuch, ein Wiedererleben des Traumas zu vermeiden, führt sehr oft zu einer Einengung des Bewußtseins, einem Rückzug aus zwischenmenschlichen Beziehungen und zu einer emotionalen Verarmung."

(Herman, 1998, 65)

Jeder Mensch bildet im Laufe seiner Entwicklung kognitive Schemata aus, in denen er sich Selbst (Identität), seine Wirksamkeit, seinen Bild vom "anderen" und dem Funktionieren der Welt, letztlich den Sinn allen Lebens entwickelt. Diese Selbstdefinition enthält Kernkonzepte; diese beinhalten auch die Fähigkeit, innerpsychische Zustände zu regulieren und Verhaltensreaktionen auf externe Belastungen zu zeigen. Die aus der Erfahrung gebildeten Schemata fungieren als Landkarten, die die alltägliche Wahrnehmung, Handlungen und Erwartungen strukturieren.

"Probleme der Selbstdefinition" führen zu:

       1. Störungen in der Ich-Wahrnehmung, wie z. B. ein Gefühl des Isoliertseins, Verlust autobiographischer Erinnerungen und Störungen der Körperwahrnehmung
       2. Ungenügende Affektmodulation und Impulskontrolle, einschließlich aggressiver Handlungen gegen sich selbst und andere; und
       3. Unsicherheit in Beziehungen, wie z. B. Misstrauen, Argwohn, Mangel an Vertrauen und Isolation.

    (van der Kolk, 2000, 173)

Negative Auswirkungen auf die Identität:

"Traumatisierten Menschen gelingt es oftmals nicht, ein persönliches Gefühl von Bedeutung, Kompetenz und ihres inneren Wertes aufrechtzuerhalten."

(van der Kolk, 2000, 26)


Zum Vergleich eine Gegenüberstellung kognitiver Schemata von traumatisierten und nicht-traumatisierten Menschen.

Typische Einstellung nicht-traumatisierter Personen     Einstellungen traumatisierter Personen

    * Die Überzeugung von der eigenen Unverletzbarkeit
    * Die Wahrnehmung der Welt als bedeutungsvoll, verständlich und kontrollierbar und
    * Die Wahrnehmung des Selbst als positiv und wertvoll.

             Eine traumatisierte Person sieht

    *  sich selbst als verletzt und zukünftig verletzbar
    *  die Welt als feindlich, unverständlich und    unkontrollierbar und
    *  sich selbst als beschädigt und wertlos.

(Maercker, 1997, 30)

Traumatische Erfahrungen haben verheerende Wirkung auf das Zugehörigkeitsgefühl zur Welt und das Selbst. "Traumatische Ereignisse erschüttern zwischenmenschliche Beziehungen in den Grundfesten. Sie zersetzen die Bindungen an Familie, Freunde, Partner und Nachbarn, sie zerstören das Selbstbild, das im Verhältnis zu anderen entsteht und aufrechterhalten wird. Sie untergraben das Wertesystem, das der menschlichen Erfahrung Sinn verleiht. Sie unterminieren das Vertrauen des Opfers in eine natürliche und göttliche Ordnung und stoßen es in eine existentielle Krise."

(Herman, 1998, 77)

Sie zerstören das Selbst mit seinen Komponenten Selbstvertrauen, Urvertrauen und dem Glauben an eine gerechte Weltordung. "Das Trauma zwingt den Betroffenen, alle früheren Kämpfe um Autonomie, Initiative, Kompetenz, Identität und Intimität noch einmal durchzustehen."

(Herman, 1998, 79)

Traumata, ganz besonders durch nahe Bezugspersonen verursacht, schädigen das Urvertrauen nachhaltig. Wie Primo Levi bemerkte, wer einmal der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt.
Übererregung

Der Körper befindet sich in einem Zustand der permanenten Übererregung mit einer gesteigerten Aktivität des autonomen Nervensystems.

(Möller, 1996, 8-10)

Dieser physiologische Erregungszustand hält unvermindert an.Ein normales waches, aber entspanntes Grundniveau fehlt. "Der belastendste Aspekt dieser Übererregung liegt wohl in der Generalisierung der Bedrohung. Die Welt wird zunehmend zu einem unsicheren Ort."

(van der Kolk, 2000, 38)

"Aus physiologischer Sicht existiert eine Absenkung der Reizschwelle und aus psychologischer Sicht eine erhöhte Bereitschaft für Angstreaktionen."

(van der Kolk, 2000, 198)

Diesen Gruppen lassen sich Einzelsymptome zuordnen:

Intrusionen

Unter Intrusionen werden spontan wiederkehrende und belastende Erinnerungen verstanden. Das Auftreten geschieht unbewusst, und wird mitunter auch durch Schlüsselreize hervorgerufen. Ihre Intensität reicht von unangenehm bis zum Überwältigt werden.

"In Form von visuellen Bildern, olfaktorischen, auditiven oder kinästhetischen Empfindungen oder intensiven Wellen von Gefühlen, die der Behauptung der Patienten zufolge zentrale Elemente des ursprünglichen traumatischen Ereignisses darstellen," erfolgt eine bruchstückhafte sensorische Wiedererinnerung.

(van der Kolk, 2000, 229)

Belastende Träume bzw. Alpträume

In wiederkehrenden Träumen tauchen Erinnerungen oder Fragmente des Traumas auf. In Alpträumen wird das Trauma oft verzerrt wiedergegeben. Alpträume verlaufen oft jahrelang nach dem immer selben Muster. Alpträume kommen auch in Schlafphasen vor, in denen man normalerweise nicht träumt.

Erinnerungsattacken

Kennzeichen dieser sog. "Flash Backs" ist ihre Plötzlichkeit und Lebendigkeit. Diese Phänomene sind meist nur kurzdauernd und gehen mit dem Gefühl einher, das Geschehen noch einmal zu durchleben. Erinnerungsattacken können mit Illusionen, Halluzinationen und dissoziativen Verkennungszuständen einher gehen.

Belastung durch symbolisierende Auslöser

Schlüsselreize wie gleiche Gegenstände, Geräusche, Düfte, aber auch Jahrestage oder die Darstellung der Thematik (z. B. im Film) rufen regelmäßig belastende Erinnerungen an das Trauma wach.

Die Auslöser müssen nicht unbedingt als solche erkannt werden und können mit der Zeit so subtil und generalisiert werden, dass bereits völlig irrelevante Stimuli zur Reaktion führen.

(vgl. van der Kolk, 2000, 34)

Die Fähigkeit intensive, aber irrelevante Stimuli richtig einzuschätzen und ein angemessenes Niveau physiologischer Erregung zu mobilisieren, ist gestört.

(vgl. van der Kolk, 2000, 90)

Physiologische Reaktionen bei Erinnerung

Bei der Konfrontation mit traumatischen Schlüsselreizen sowie Erinnerungen treten unwillkürliche Körperreaktionen wie Schwitzen, Zittern, Atembeschwerden, Herzklopfen oder -rasen, Übelkeit oder Magen-Darmbeschwerden oder starke Ängste auf.

Somatisierung

Oft werden Somatisierungen ausgebildet zu denen der Betreffende den Zusammenhang zwischen Erkrankung und Trauma nicht mehr herstellen kann. "The body keeps the score" (van der Kolk nach Melbeck, 2001)

Vermeidung / Betäubung

Gedanken und Gefühlsvermeidung

Der Betroffene vermeidet bewusst Gedanken und Gefühle, die ihn an das Trauma erinnern. Strategien, die benutzt werden sind z. B. Gedankenstoppversuche und Selbstkommentare. Die Strategien werden unabhängig vom Erfolg der Bemühungen eingesetzt.

Aktivitäts- und Situationsvermeidung

Aktivitäten oder Situationen (wie Orte des Geschehens, bestimmte Tageszeiten) die an das Trauma erinnern, werden phobisch vermieden.

(Teil-)Amnesien

Wichtige Elemente oder das ganze Ereignis, kann nicht mehr erinnert werden, es herrschen unscharfe oder fragmentierte Erinnerungen vor.

Leistungsverminderung
Das Interesse an wichtigen Aktivitäten des privaten und beruflichen Alltags ist deutlich vermindert.
Entfremdungsgefühl
Der Betroffene empfindet ein Gefühl der Fremdheit und des Losgelöstseins von anderen Personen, die nicht die gleiche traumatische Erfahrung gemacht haben. Die Kluft zwischen sich und anderen wird als subjektiv unüberwindbar empfunden.

Die Zerstörung des sozialen Misstrauens ist umfassend gegen die Umwelt gerichtet. (vgl. Jonathan Shay, Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust, Hamburg: Hamburger Edition 1998, 71) Traumatisierte Menschen entwickeln besonders feine Antennen für unbewusste und nonverbale Kommunikation, sie haben keine "normalen" Beziehungen und schwanken zwischen intensiver Zuneigung und verängstigtem Rückzug. Mitmenschen werden bestimmte Rollen zugewiesen und ihr Verhalten beobachtet. "Da kaum jemand die ständigen, strengen Prüfungen des Vertrauens bestehen kann, zieht sich das Opfer im Lauf der Zeit mehr und mehr aus allen Beziehungen zurück."

(Herman, 1998, 131)

Eingeschränkter Affektspielraum

Die Betroffenen fühlen sich wie erstarrt und abgestumpft und erleben ihr Gefühlsleben als zerstört. Sie haben die Fähigkeit verloren jemanden zulieben, sich zu freuen, zu trauern oder Mitleid zu empfinden.

Traumatisierte neigen dazu intensive negative Gefühle wie Furcht, Angst, Wut und Panik als Reaktion auf selbst unbedeutende Stimuli zu erfahren. Die Reaktion folgt unmittelbar auf den Stimulus ohne dass dem Handelnden bewusst sein muß, was ihn so aufregt. Die Reaktionsweise ist übertrieben und offen aggressiv oder die Patienten verschließen sich und erstarren.

Ein niedriges emotionales Ausdrucksniveau führt zu einer Beeinträchtigung der Immunfunktion und zu vermehrter körperlicher Krankheit.

Eingeschränkte Zukunft
Der Betroffenen hat das Gefühl, daß das Trauma Jahre seines Lebens unwiderbringlich zerstört hat und dass nichts wichtiges im Leben mehr passieren kann. Pläne und ein Zukunftsentwurf werden nicht mehr gemacht.

Dadurch berauben sich Traumatisierte auch oft der Chance, durch erfolgreichen Umgang mit neuen Situationen die Wirkung des Traumas abzumildern.

Übererregung

Ein- und Durchschlafschwierigkeiten

Die Schlafstörungen können mit Intrusionen und Alpträumen einhergehen.

Erhöhte Reizbarkeit

Die Neigung zu erhöhter Reizbarkeit und Wutausbrüchen kann oft von den Betroffenen nur schlecht selbst beurteilt werden.Problem der explosiven aggressiven Reaktion:

"Die Aggressivität des traumatischen Neurotikers ist nicht beabsichtigt oder vorsätzlich. Seine Aggression ist immer impulsiv; sie kann nicht lange durchgehalten werden. Völlig episodisch, alterniert sie häufig mit Stimmungen extremer Zärtlichkeit."

(van der Kolk, 2000, 198)

Konzentrationsschwierigkeiten

Der Betroffenen hat ausgeprägte Schwierigkeiten sich auf einfache Abläufe, wie ein Buch lesen, Lernen, Filme sehen etc. zu konzentrieren. In diesen Momenten treten bewusst oder unbewusst intrusive Erinnerungsschübe auf.

Übermäßige Wachsamkeit/Hypervigilanz

Mit gesteigerter Wachsamkeit wird die Umgebung sondiert. Der Betroffene hat ein ständiges Gefühl des Nicht-Trauen-Könnens, verbunden mit einem fortdauernden und unrealistischen Gefährdungsgefühl.

Übermäßige Schreckreaktion

Der Betroffene ist sehr leicht, auch schon durch leichte Geräusche und Bewegungen, zu erschrecken.Diese Reaktion tritt nicht nur bei auditiver Stimulation, sondern auch in Reaktion auf Temperatur, Schmerz und plötzlicher taktiler Stimulation auf.

(vgl. van der Kolk, 2000, 198)

Das Auftreten von Intrusion und Vermeidung wird als die Dialektik des Traumas bezeichnet, da sie sich gegenseitig bedingen und verstärken.

Häufig geht der Zusammenhang zwischen den traumatischen Symptomen und ihrem Auslöser verloren, die Symptome verselbständigen sich ohne dem Betroffenen oder dem Arzt Auskunft über das Trauma geben zu können.

Ganz verheerende Wirkung haben Misshandlung und Missbrauch in der Kindheit. Kinder werden erheblich in ihrem Reifeprozeß behindert. Je jünger das Kind und je länger dauernd das traumatische Geschehen ist, desto größer ist die Schädigung. Auch als Erwachsene bleiben diese Menschen Gefangene ihrer Kindheit. Oft kommt eine Erkrankung erst nach Jahren zum Ausbruch.